Im Nachhall des G20 Gipfels in Hamburg diskutierten die beiden Münchener Soziologen Armin Nassehi und Stephan Lessenich in der Online-Ausgabe „Der Zeit“ darüber, ob es eine Linke braucht. Während Armin Nassehi in seinem Auftaktartikel, „Eine Linke braucht es nicht”, die Existenzberechtigung einer Linken in Frage stellt, plädiert Stephan Lessenich in seiner Replik “Warum es eine Linke braucht” für den Erhalt der Linken. Soweit zur Dialektik einer politischen Debatte zwischen zwei public intellectuals der deutschen Soziologie.
Als Soziologe geht es mir hier aber nicht um die politischen Positionen der beiden, sondern um die verborgenen soziologischen Theorien hinter ihnen. Während Nassehis Artikel auf einer Variante der Systemtheorie Niklas Luhmanns beruht, argumentiert Lessenich auf einer, hier nicht näher bestimmbaren, Netzwerktheorie.
Beide soziologische Theorien haben dabei zwei vollkommen unterschiedliche, dialektische Zielsetzungen. Während Luhmanns verwirrend komplexe Systemtheorie das Ziel hat, möglichst einfache Beschreibungen unserer Gesellschaft zu ermöglichen, möchte die erstaunlich einfache Netzwerktheorie möglichst komplexe Beschreibungen unserer Gesellschaft ermöglichen. So lässt sich nur mit Luhmann sagen, dass es in den „Funktionssystemen“, Politik, Wirtschaft und Linke nur um Macht, Geld oder, wie bei Nassehi, um die „Abschaffung des Kapitalismus“ geht.
An diesem Punkt setzt die Kritik Lessenichs ein, der Nassehi vorwirft, dass er „bemerkenswert komplexitätsreduzierend operiert“. Dieser Vorwurf ist natürlich wohlfeil, weil er einer komplexen Theorie, die einfache Beschreibungen ermöglichen soll, vorwirft, eben dies zu tun. Dies weiss Lessenich als Soziologe selbstverständlich auch und fragt empirisch, „von welchen Linken hat man diese ultimative Forderung zuletzt gehört“.
In der Schweiz zumindest von keinen. Die internationale Linke, wie sie sich auf dem Basler Kongress „Reclaim Democracy“ Anfang des Jahres versammelt hatte forderte – wen würde es bei diesem Titel wundern – mehr Demokratie. Selbstverständlich ist diese Linke auch kein grosser Freund des Kapitalismus, aber ihr Kernanliegen ist weder die Abschaffung des Kapitalismus noch die Etablierung einer „staatlich-zentralistischen Regulierung“, wie es sich Nassehi zusammensystemtheoretisiert. Zwar mögen 2017 noch kleine Teile der deutschen Linken darauf warten, sich endlich ein Ticket für den klassisch-marxistischen Revolutionszug zu kaufen, die internationale Linke tut dies nicht. Denn spätestens 2011 hat Occupy Wallstreet gezeigt, dass sich heute die Idee des Klassenkampfes nicht mehr binnen weniger Monate innerhalb einer Nation, sondern binnen weniger Wochen global verbreiten lässt.
Heute träumt die internationale Linke eher von einer globalen Demokratie, in der Staaten – wenn sie überhaupt noch als notwendig erachtet werden – sicher nicht die Funktion einer zentralistischen Regulierung übernehmen sollen. Die internationale Linke träumt mindestens von einer Demokratie wie der Schweiz und nicht von einer repressiven Demokratie wie Deutschland.
Dass Nassehis systemtheoretische Beschreibung einer Linken an der Realität vorbeläuft, wundert dabei niemanden, der einen kleinen Überblick über die Systemtheorie Niklas Luhmanns hat. Schliesslich hat Niklas Luhmanns selbst in einem Interview, das er 1994 wenige Jahre vor seinem Tod geführt hat, ausführlich erklärt, warum seine Systemtheorie nur sehr bedingt für die Beschreibung von Protestbewegungen geeignet ist. Dort zweifelt er, das „man wirklich sagen kann, es gibt eine Protestbewegung mit klaren Außengrenzen: Immer, wenn man protestiert, ist man in dieser Bewegung, und wenn nicht, dann nicht. Dazu sind die Themen viel zu diffus”. “Deshalb”, so beendet Niklas Luhmann sein Argument, “denke ich, daß die Protestbewegungen nicht die Deutlichkeit eines Funktionssystemarrangements haben”, dass sich als klare Differenz zwischen „Kapitalismus abschaffen“ und Kapitalismus erhalten beschreiben lässt.
CC: Philipp Adamik 2017 CC-BY-NC 4.0
Für die Bildrechte einfach auf die Bilder klicken.