Eine kritische Betrachtung der Grundannahmen und des analytischen Konzepts des Spektrums der Austauschbeziehungen von Philipp Adamik (2012)
Anfang Oktober 2012 erschien die deutsche Übersetzung des aktuellen Buchs Zusammenarbeit des amerikanischen Soziologen Richard Sennett. Richard Sennett, einer der bedeutendsten zeitgenössischen Soziologen, wurde 1943 in Chicago, Illinois, als Sohn russischer Einwanderer geboren. Er lehrt Soziologie und Geschichte an der New York University und der London School of Economics.
Sennett ordnet sich selbst dem linken politischen Lager zu und verkörpert das Bild des politischen Intellektuellen. Aufgrund dieses politischen Wissenschaftsverständnisses bezieht er in seinem Buch auch eine klare Position. Das erklärte Ziel seiner Publikation ist es, die Zusammenarbeit zwischen Personen unterschiedlicher Herkunft mit anderen Meinungen und unterschiedlichen Interessen, die latente Antipathien hegen, zu stärken (Sennett 2008, S. 18). Methodisch erläutert er seine Vorstellungen von gelungener Zusammenarbeit vorwiegend durch historische Gegebenheiten, persönliche Anekdoten und Bespiele aus den Bereichen Kunst und Literatur. Aktuelle Bezüge werden vorwiegend im Hinblick auf die Finanzkrise im Jahre 2008 hergestellt, die er als eine Auswirkung der, u. a. durch die modernen Formen der Arbeit geschwächten Kooperation in der Arbeitswelt versteht (ders., S. 241). Der Stil des Buches ist sehr essayistisch. Über weite Teile erinnert der Schreibstil an einen Roman, in dem die Geschichte der Zusammenarbeit seit dem Mittelalter bis zur aktuellen Situation auf sehr unterhaltsame Weise erzählt wird. Sennett bedient sich dabei eines interdisziplinären Ansatzes, der den Gegenstand Kooperation aus den Perspektiven der Anthropologie, Soziologie und der Geschichtswissenschaft beleuchtet. Die von ihm vorgeschlagene Lösung des Problems der geschwächten Kooperation, der dialogische Austausch, wird dabei nicht nur theoretisch vorgestellt, sondern prägt den Schreibstil des gesamten Buches (s. u.).
Das Buch ist der zweite Teil einer Trilogie. Der erste Teil Handwerk erschien 2008. Der sich in Arbeit befindliche letzte Teil wird sich mit dem Gegenstand Städtebau beschäftigen. Alle drei Bände sollen am Ende eine Einheit bilden, sind aber dennoch so konzipiert, dass jeder für sich verständlich ist. Dieser Ansatz ist durchaus gelungen. Bei der Lektüre dieses Buches hatte ich nie das Gefühl, dass mir Grundlagenwissen aus dem ersten Teil fehlen würde. Alle Unklarheiten ließen sich für mich als soziologisch geübten Leser leicht mit Hilfe einer kurzen Onlinerecherche klären. Der anekdotische Erzählstil des Buches sollte aber auch für den ungeübten Leser ein leichtes Verständnis ermöglichen.
Das Buch selbst ist in drei bzw. – wenn man die umfangreiche Einleitung mitzählt – vier Teile mit jeweils mehreren Unterkapiteln gegliedert. Diese sind:
Einleitung:Kooperation als Grundhaltung, I Kooperation gestalten, II Geschwächte Kooperation und III Gestärkte Kooperation.
Der Schwerpunkt dieser kritischen Betrachtung sind die Kapitel Einleitung, in der wichtige Grundbegriffe und Grundannahmen geklärt werden, und das Kapitel Kooperation gestalten, in dem das zentrale analytische Konzept des Buches, das Spektrum der Austauschbeziehungen, erläutert wird. Die beiden weiteren Kapitel werden zum Teil angesprochen, sollen aber vom geneigten Leser vorwiegend selbst erschlossen werden. An dieser Stelle soll nur ein einfacherer Zugang zu dem neuen Buch von Richard Sennett ermöglicht werden.
Einleitung: Kooperation als Grundhaltung: Eine Erläuterung des Grundbegriffes der Kooperation und der Technik der Dialogfähigkeit
In der Einleitung, Kooperation als Grundhaltung, definiert Sennett Kooperation nüchtern „als Austausch, von dem alle Beteiligten profitieren“ (ders., S. 17) und spricht eines der zentralen Themen des Buches, die Abgrenzung und Verbindung von Kooperation und Wettbewerb an. Den scheinbaren Widerspruch zwischen diesen beiden Formen des Austausches löst er elegant im zweiten Kapitel des Buches, Das fragile Gleichgewicht, Konkurrenz und Kooperation in Natur und Kultur, auf, ohne die Probleme, die zwischen den beiden Austauschformen bestehen, unter den Tisch zu kehren (s. u.). Auch wenn Sennett ein klarer Verfechter des Prinzips der Kooperation ist, blendet er die Gefahren unreflektierter Kooperation nicht aus. Eine dieser Hauptgefahren, von ihm Tribalismus genannt, sieht er in der Verbindung von Solidarität von solchen, die einem ähnlich sind, mit Aggressionen gegen solche, die einem fremd sind (ders., S. 15f.). Alltagsphänomene wie Rassismus und Bevorzugung bei gleichzeitiger Abwertung bestimmter Klassen von Personen (z. B. Die Benachteiligung aufgrund bestimmter Vornamen, von Pädagogen mit Hilfe des Begriffs des Kevinismus angewandt wird, fallen unter die Kategorie des Tribalismus. Sennetts Gegenkonzept ist eine anspruchsvolle Art der Kooperation, die versucht Menschen zusammenzubringen, die unterschiedliche oder sogar gegensätzliche Interessen verfolgen. Damit grenzt sich Sennett von der geltenden psychologischen Lehrmeinung ab, die gemeinsame Interessen und Vertrauen als Grundlage von Kooperation betrachtet (vgl. Wehner 2008). Ein Konzept, dasdurchaus mit dem von Sennett kritisierten Tribalismus korrespondiert (s. o.). Sennetts anspruchsvolle Art der Kooperation bedarf folglich auch einiger sehr anspruchsvoller Fähigkeiten oder Kompetenzen wie gutes Zuhören, taktvolles Verhalten, das Ausfindigmachen von Übereinstimmungen, Techniken des geschickten Umgangs mit Meinungsverschiedenheiten und die Vermeidung von Frustration. Gebündelt werden diese Fähigkeiten unter dem Begriff der Dialogfähigkeit (Sennett 2012, S. 18f.) bzw. der Technik des dialogischen Gesprächs. Das dialogische Gespräch wird von Sennett von der dialektischen Argumentation abgrenzt. Während es beim ersteren um ein besseres Verständnis der eigenen und der Position des Gegenübers geht, ist das Ziel der dialektischen Argumentation die Übereinstimmung (vgl. Sennett 2012, S. 34 – 37).
Die Dialogfähigkeit der Akteure sieht Sennett in unserer modernen Arbeitsgesellschaft durch vier Punkte gefährdet:
– die Entfernung der Elite von der Masse,
– den Siloeffekt in Organisationen (die Isolierung einzelner Beschäftigter und Abteilungen),
– die Zunahme kurzfristiger Teilzeitjobs und
– die kulturelle Tendenz der Angleichung, die darauf zielt, individuelle psychologische Erregung zu vermeiden (ders., S. 20 – 22).
Diese gesellschaftlichen Entwicklungen wirken dabei nach Sennett der, sich bereits in den ersten Monaten nach der Geburt sich entwickelten Kooperationsfähigkeit von Säuglingen entgegen. Die Kooperationsfähigkeit ist für Sennett eine entscheidende Antriebskraft der kindlichen Entwicklung, die soziale und kognitive Fähigkeiten verbindet (ders., S. 23 – 29).
Eine Grundlage der Entwicklung der Dialogfähigkeit, als Technik der anspruchsvollen Kooperation, ist die Achtsamkeit gegenüber anderen. Dabei warnt Sennett ausdrücklich vor einer Überidentifikation mit dem Gegenüber. Dialogfähigkeit dient bei Sennett dem besseren Verständnis der eigenen Position und der Position des Gegenübers.
Um für diese Gefahr der Achtsamkeit zu sensibilisieren, differenziert er diese durch die Kategorien Sympathie und Empathie. Sympathie versteht er dabei als eine Form des emotionalen Hineinfühlens in eine andere Person, mit der Folge, dass man sich mit der anderen Person identifiziert und sich seinem Gegenüber angleicht oder gar unterwirft. Empathie versteht er dagegen als eine rationalere Form des Umgangs mit dem Gegenüber. Eine empathische Reaktion geht dabei ebenfalls auf die Persönlichkeit des Gegenübers ein, aber dieses Eingehen basiert auf Aufmerksamkeit statt auf Emotionen. Beide Formen der Achtsamkeit bringen dem Gegenüber Anerkennung zum Ausdruck und sind jeweils in unterschiedlichen Situationen notwendig (ders., S. 37 – 39). So ist eine Liebesbeziehung wohl kaum auf der Basis von reiner Empathie möglich, hier muss Sympathie mit ins Spiel kommen, wenn die Zurückweisungen des Alltags die Beziehung nicht zerstören sollen. Aus dem ich weiß, dass dir deine Arbeit wichtig ist muss ein ich verstehe, dass du auch lieber mehr Zeit mit mir verbringen möchtest, aber deine Arbeit lässt das einfach nicht zu werden.
Sennett betrachtet Empathie als das anspruchsvollere Gefühl, weil es im Unterschied zur Sympathie eine ausschließliche Konzentration auf die Sache oder das Gegenüber verlangt, während Sympathie die eigenen Emotionen mit in die Situation hineinträgt (ders., S. 39). Ein Beispiel für eine empathische Form der Kooperation findet sich in dem Abschnitt über Win-Win-Situationen (s. u.).
Als Stilmittel um dialogische Gesprächssituationen zu ermöglichen und das Gegenüber zu einer Stellungnahme zu bewegen, schlägt Sennett eine häufige Verwendung des Konjunktivs vor. Der Konjunktiv soll dabei das Gegenüber zum Mitdenken einladen (ders. S. 40). Laut Sennett stehen aber der Verwendung des Konjunktivs und der damit verbundenen Öffnung der Situation gesellschaftliche Strukturen entgegen, die dialektische, ergebnisorientierte Kommunikations-formen bevorzugen (ders. S. 42). Ein Beispiel dafür sind die in deutschen Schulen üblichen unterrichtlichen Arrangements, die jede Stunde mit einer Sicherung von Ergebnissen abschließen.
Die Einleitung bietet einen sehr guten Überblick über das Werk, schneidet wichtige Themen des Buches verständlich an und eignet sich für den professionellen Soziologen als Grundlagentext, um das Thema Kooperation in einem Seminar zu beleuchten. Im Sinne der Wissenschaftsethik nach Max Weber ist dabei die politische Intentionalität des Textes zu thematisieren. Dem Autor selbst ist dabei in dem Punkt Transparenz kein Vorwurf zu machen.
Das Spektrum der Austauschbeziehungen
Das zentrale analytische Instrumentarium des Buches stellt das Konzept des Spektrums der Austauschbeziehungen dar.
Unter Austausch versteht Sennett „die Erfahrung des Gebens und Nehmens bei allen Tieren“ (ders., S. 103), die auf dem elementaren Lebensrhythmus von Reiz und Reaktion basiert und sich in der Sexualität, Fütterungsregimen oder in Kämpfen finden lässt. Bei höheren Primaten, wie dem Menschen, wird der Austausch zu einem bewussten Handeln, da sie sich überlegen, was sie geben und was sie nehmen sollen und mit verschiedenen Arten des Austausches experimentieren. In den Austauschformen Altruismus und unerbittlicher Konkurrenz sieht Sennett die Grenzen der menschlichen und tierischen Austauschformen. Zwischen diesen beiden Polen unterteilt er das Spektrum in drei weitere Austauschformen. Aus dieser Unterteilung ergeben sich die folgenden fünf Austauschformen:
1) altruistischer Austausch,
2) dem Win-Win-Austausch,
3) dem differenzierten Austausch,
4) dem Nullsummentausch und
5) „der Gewinner erhält alles“ (ebd.).
Die interessanteste Form der Austauschbeziehungen ist dabei der differenzierte Austausch. Während bei den anderen Austauschformen in der Regel ein intuitives Verständnis der Austauschformen vorliegt, ist dieses beim differenzierten Austausch nicht der Fall. Aber auch Sennetts Verständnis des Nullsummenspiels unterscheidet sich von dem üblichen Verständnis, weshalb diese beiden Austauschformen ausführlicher behandelt werden. Die Erläuterungen der Austauschformen illustrieren zunächst Sennetts Verständnis, das durch eigene alltägliche Beispiele weiter erläutert wird. Im Fazit wird eine kritische Haltung zu Sennetts bevorzugter Austauschform, dem differenzierten Austausch, eingenommen.
1) Der altruistische Austausch
Beim altruistischen Austausch handelt es sich um eine vollkommen selbstlose Gabe, für die der der Gebende keine Gegenleistung erhält und eventuell zu großen eigenen Opfern bereit ist. Ein Beispiel hierfür ist die Rettung einer Person aus einem brennenden Auto. Häufig wird eine solche Handlung zwar durch die Steigerung des eigenen Wohlbefindens intern belohnt und später wird dem Helden durchaus Respekt und Anerkennung gezollt. Diese Belohnungen spielen aber keine Rolle bei der Entscheidung, die Handlungen zu vollführen (vgl. ders., S. 105 – 108).
2) Der Win-Win-Austausch
Win-Win-Austauschbeziehungen beruhen wesentlich stärker auf Gegenseitigkeit. Am Ende der Austauschbeziehung steht für beide Seiten ein Gewinn. Klassisches Beispiel ist dafür ist der Geschäftsabschuss, bei dem am Ende beide Seiten (der Käufer eine Ware oder Dienstleistung, der Verkäufer einen monetären Gegenwert für seine Ware), einen Gewinn erhalten erhält. Diese Form der Austauschbeziehung kann auch Elemente der Konkurrenz beinhalten (ders. S. 108f.), wie beim dem Feilschen auf dem Flohmarkt. Zu Beginn der Verhandlungen haben die beiden Parteien unterschiedliche Interessen. Der Käufer will einen möglichst niedrigen Preis bezahlen, während der Verkäufer einen möglichst hohen Preis erzielen möchte. Im Gengensatz zu dem der Gewinner erhält alles Austausch möchte aber keiner der beiden Konkurrenten den anderen über den Tisch ziehen. Beide Konkurrenten haben ein empathisches Verständnis für das Interesse des anderen. Zum Schluss sollen und wollen beide mit dem Ergebnis zufrieden sein. Damit ein für beide Seiten befriedigender Austausch zustande kommt, muss der Austausch auf Empathie und nicht auf Sympathie beruhen, – der Käufer muss den Verkäufer und seine Interessen nicht mögen, sondern nur respektieren. Beruht der Kauf aber auf Sympathie und nicht auf Empathie, kann auch mit der Sympathie für den Verkäufer – z. B. wenn das Produkt an einem anderen Stand für einen geringeren Preis entdeckt wird – auch die Freude an dem Produkt verfliegen.
3) Der differenzierte Austausch
Die differenzierten Austauschbeziehungen befinden sich in der Mitte des Spektrums. In der Tierwelt, z. B. bei Schimpansen, liegen differenzierte Austauschbeziehungen bei dem Setzen von territorialen Grenzen vor. Die Grenzziehung selbst ist dabei durchaus von hoher Konkurrenz geprägt, aber nachdem die Grenzen erst einmal gezogen worden sind, liegt eine gewisse Stabilität vor, die in zukünftige Begegnungen die Aggressivität minimiert und beiden Parteien einen Lebensraum zusichert, der ihr Überleben sichert. Grenzen sind dabei immer umstrittene Räume, die ein gewisses Konfliktpotential beherbergen (ders., S. 112). Sennets Beispiele für differenzierte Austauschformen auf nationaler und städtischer Ebene empfand ich als nicht sonderlich erhellend (vgl. ders., S.112f.). Aus diesem Grund könne kann die hier getroffenen diesbezügliche Erläuterung durchaus von Sennetts Meinung abweichen. Der differenzierte Austausch auf persönlicher Ebene und seine historische Entwicklung folgen aber wieder stärker Sennetts Argumentation.
Eine Form des differenzierten Austausches bei Menschen sind diplomatischen Verhandlungen, die Grenzen betreffen. Die Neugliederung Deutschlands nach dem Fall der Mauer (ein historischer Sonderfall, bei dem die Verschiebung von Grenzen ohne kriegerische Konflikte, wenn auch nicht gänzlich gewaltfrei, vonstatten ging) ist ein Beispiel für diese Austauschform.
In der europäischen Stadt werden territoriale Grenzen durch Marktprozesse, welche die Miet- und Kaufpreise von Immobilien bestimmen, gezogen. Die Folge ist die Konzentration ähnlicher Einkommensschichten in bestimmten Stadtteilen. Wenn auch bestimmte Stadtteile Vorteile in den Punkten Lebensqualität und Lebenschancen bieten, so ist doch ein allgemeines Überleben in allen Stadtteilen nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich. Auf der häuslichen Ebene finden solche Austauschbeziehungen in Form von Konflikten um die besseren Zimmer innerhalb von Familien oder Wohngemeinschaften statt.
Auf der persönlichen Ebene verwendet Sennett das Beispiel einer zwanglosen Unterhaltung auf einer Dinnerparty oder in einer Bar. Nach der Konversation können die Fremden oder die nur oberflächlich bekannten Personen ihre eigenen Interessen, Werte und Wünsche besser verstehen. Im Verlauf der Unterhaltung werden Unterschiede deutlich und der Kontakt verhilft beiden Gesprächspartnern zu mehr Selbsterkenntnis. Diese Situation kann auch als einen Win-Win-Situation aufgefasst werden – allerdings liegt, so Sennett, „der Schwerpunkt auf einem reflexiven Moment, eher auf dem, was Menschen über sich selbst lernen, als in der Stärkung einer Beziehung“ (ders., S. 113).
Die historische Entwicklung dieser Gesprächsform führt Sennett auf die Entstehung von Kneipen, Cafés und Kaffeehäusern im 18. Jahrhundert zurück. Diese versuchten aus ökonomischen Gründen diese jene Form des Gesprächs durch ihre Innenarchitektur zu fördern. Das Kalkül der Besitzer bestand darin, dass wenn zwischen Fremden anregende Gespräche entstanden, diese in der Regel länger blieben und konsumierten. Auf der Seite der Fremden wurde diese Form des Gesprächs durch drei Entwicklungen gefördert. Zum ersten übernahmen sie Redewendungen und Gesten von den in allen Bevölkerungsschichten beliebten Theaterbühnen. Diese Übernahme stellte dabei eine gemeinsame Gesprächsbasis dar, die Kommunikation über Schicht- und Klassengrenzen hinweg ermöglichte. Zum zweiten stand der Wert der Aufklärung, offen, frei und ohne Verlegenheit mit anderen zu sprechen, zu dieser Zeit besonders hoch im Kurs. Zum dritten kam zu dieser Zeit ein neuer Typ von Menschen auf, der Informationen nach ihrer Bedeutung und ihrem Wert einschätzen konnte (ders., S. 114). Alle vier Entwicklungen verbanden die räumlichen, sprachlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mit dem persönlichen Interesse an offenen Gesprächen und ermöglichten so die Entstehung der Gesprächsform der zwanglosen Unterhaltung.
Die Blütezeit des offenen Gesprächs an öffentlichen Orten ging aber im Verlauf des 19. Jahrhunderts vorüber. In diesem Jahrhundert sieht Sennett eine Verlagerung des Lebens von der sprachlichen zur visuellen Begegnung. Zwischen Fremden in einer Bar besteht seitdem die stillschweigende Übereinkunft, nicht ungefragt in die Privatssphäre des anderen einzudringen. Diese Entwicklung stellt Sennett vor die Frage, ob auch visuelle Formen des differenzierten Austausches existieren, beantwortet diese aber nicht (ebd.).
Neben differenzierten Grenzziehungen und Selbsterkenntnis vermag der differenzierte Austausch nach Sennett noch ein Drittes. Er kann die Erkenntnis zutage fördern, dass anders nicht gleich besser oder schlechter heißt und das Gefühl der Andersartigkeit nicht gleich in einem neidvollen Vergleich enden muss (ders., S. 116). Eine Erkenntnis, die in der pädagogischen Formel Heterogenität als Chance ihre, wenn auch immer noch voller Ressentiments, aktuelle pädagogische Entsprechungen hat. Denn eine weniger offen tribalistische Grundhaltung würde Heterogenität als Gewinn betrachten.
4) Der Nullsummentausch
Nullsummenspiele liegen immer dann vor, wenn der Gewinn der einen Seite mit dem Verlust der anderen Seite übereinstimmt (ders., S. 118). Ein Beispiel hierfür sind Bewerbungssituationen um eine Stelle, bei der nur ein Bewerber gewinnt, während die anderen leer ausgehen.
Aber auch Nullsummenspiele sind nicht vollkommen frei von Kooperation (ders., S. 119). Auf der Seite von strategischen Gruppenhandlungen ist Kooperation notwendig – zahllose Beispiele, lassen sich im Bereich Sportes und im Wahlkampf finden, bei dem mehrere Akteure oder Gruppen um einen Preis, den Gewinn eines Pokals oder der Bundestagswahl, ringen. Auch die oben angesprochene Form des Tribalismus ist eine Ausprägung dieser Austauschform. In der Regel gleichen aber heutige Nullsummenspiele allerdings eher Win-Win-Situationen mit einer stark variierenden Gewinnverteilung. Die Verlierer der oben genannten Wettbewerbe können, mit Ausnahme des Tribalismus, zumindest eine Aufwandsentschädigung für ihre Anstrengung erwarten. Diese liegt auch im Sinne des Gewinners, da er ein Interesse an einem weiteren Wettbewerb mit dem Verlierer hat.
Auch zwischen individuellen Konkurrenten ist ein Mindestmaß an Kooperation notwendig. In der Regel einigen sich die Wettbewerbsteilnehmer auf gewisse Spielregeln (ders., S. 121). Auf das Beispiel der Bewerbung bezogen handelt es sich dabei um die, in der Regel stillschweigend getroffene Übereinkunft, auf bestimmte formale Anforderungen und einen gewissen Respekt gegenüber den anderen Bewerbern zu achten, die eine Diskriminierung der anderen Bewerber ausschließt. Zu Beginn einer Bewerbungsphase sind dabei auch auf Seiten der Verlierer noch leichte Gewinne zu verzeichnen. Erwerben sie doch Erfahrungen über das Schreiben von Bewerbungen und das Verfahren. Allerdings nehmen diese Gewinne mit jeder weiteren Bewerbung immer stärker ab, sodass nach der 50. erfolglosen Bewerbung nur noch Frustration bleibt. Aber die erneute Teilnahme am Bewerbungsspiel ist ihm auch nach der fünfzigsten Bewerbung nicht genommen.
5) Der Gewinner erhält alles
Diese Form des sozialen Austausches erklärt sich von selbst. Der Gewinner vernichtet den Gegner, ein weiteres Spiel ist unmöglich. Beispiel hierfür sind vollständige Vernichtungskriege, Völkermord und im Geschäftsleben sind dies unnatürliche Monopole (ders. S. 121). Im Alltag kommt diese Form des Spiels eigentlich nicht vor. Ein Beispiel für Austauschbeziehungen dieser Form wäre ein Mord, der zwar in heutigen westlichen Gesellschaften vorkommt, aber zum Glück nicht zum Alltag gezählt werden kann.
Fazit: Kritische Betrachtung des Konzepts des differenzierten Austausches und Ausblick auf die weiteren Kapitel des Buches
Sennett bevorzugt eindeutig die Form des differenzierten Austausches. Weshalb er auch in den folgenden Kapiteln durchaus erfolgreich versucht, Spielregeln für den differenzierten Austausch darzulegen. Grundlegend sind für ihn dabei die Formen des Rituals (ders., S. 122 – 151) und der Höflichkeit (ders., S. 160 – 178). Als Gewinn dieser Art von Kooperation verspricht er eine hohe Innovationsfreude, die sich u. a. In Form von Erfindungen materialisieren kann (ders., S. 151 – 160).
In Sennetts Perspektive verschieben differenzierte Austauschbeziehungen, im Unterschied zu konkreten Win-Win-Situationen, den Nutzen des Austausches auf eine abstrakte innere, sehr stark mit wissenschaftlichen Werten wie Selbst- und Welterkenntnis verbundene Ebene. Diese Erkenntnisse können durchaus den am Austausch beteiligten Personen zukünftig in konkrete Win-Win-Situationen, Nullsummenspiele oder, im schlechtesten Fall, in der Gewinner bekommt allesSituationen, von Nutzen sein, aber darin besteht selbstverständlich keine Garantie.
Nicht nur dem historischen Zugriff auf den Gegenstand ist die Ausblendung von Formen der Online-Kooperation geschuldet. In Bezug auf User Generated Content, der Einbindung von Besuchern einer Plattform in die Erstellung von Inhalten wie es jeder Facebook User bei jeder Aktivität tut, wird unter dem Begriff der Kollaboration etwas Ähnliches verstanden wie Sennetts Konzept des differenzierten Austausches. Bei der Arbeitsform der Kollaboration, bringt jeder User seine eigenen Fähigkeiten in ein Gesamtwerk, z. B. einem Wikipediartikel, mit ein. Die einzelnen User erhalten dabei eine nahezu vollständige Kontrolle über den Entstehungsprozess. Sie einigen sich auf Spielregeln der Kommunikation (z. B. Sachlicher Austausch über den Inhalt des Artikels), ein gemeinsames Grundverständnis der Aufgabe (z. B. einen Artikel erstellen, der zuverlässige Informationen liefert) und eine gemeinsame Zielsetzung (z. B. Den Artikel innerhalb von 10 Tagen zu erstellen) (Ebersbach et al. 2011, S. 206f.). Die ersten Phasen des Projektes, die Einigungsphase, verfolgt also die Form des dialektischen Gesprächs (s. o.), während die eigentliche Zusammenarbeit stärker an die Form des dialogischen Gesprächs erinnert, in dem die User ihre besonderen Fähigkeiten und Kenntnisse in das Produkt mit einfließen lassen. Am Ende des Prozesses liegt eine Win-Win-Situation vor. Jeder beteiligte User konnte sowohl seinen Kenntnisstand durch die intensive Auseinandersetzung mit einem Gegenstand erweitern und erhält einen Teil der Anerkennung innerhalb der Online-Gemeinschaft. Zum Schluss profitieren auch die unbeteiligten Dritten, die Leser des Artikels, von dieser Form der Kooperation.
Das Beispiel der Online-Kooperation zeigt sowohl die praktische Anwendung, bzw. den empirischen Gehalt von Sennetts analytischem Spektrum, als auch die Begrenztheit seiner ideologischen Forderung nach mehr offenen Kooperationsformen. Für die statistische Verteilung von Rollen in der Online-Kooperation nennt Jakob Nielsen die Faustregel 90-9-1 (Nielsen 2006 o. s. zit. n. Ebersbach 2011, S. 207). Selbst in den sehr offenen Formen der Online-Kooperation beteiligen sich nur 9 % gelegentlich an der Erstellung von Inhalten, während nur 1 % der User regelmäßig mitarbeitet; die übrigen 90 % sind reine Leser. Auch wenn sich die westliche Gesellschaftsformation im Sinne Sennetts stärker in Richtung offener Kooperationsformen entwickeln sollten, erscheint es mir doch eher unwahrscheinlich, dass die Mehrheit der User zu einer regelmäßigen Beteiligung bereit wären.
Aber Sennetts Vorstellungen liegt ein zu akademischer und damit auch zu elitärer Duktus zugrunde, als dass diese Form des Austausches als Vorbild für eine breite gesellschaftliche Schicht dienen kann. Innovations- und Erfindungsgabe sind nicht nur durch Kommunikationsmethoden, wie dem viel beschworenen Brainstorming oder dem dialogischen Gespräch, zu erlangen. Häufig entstehen bei solchen Methoden „nur“ individuelle Neuentdeckungen, sodass man nicht von einer echten Innovation sprechen kann. Diese benötigt nämlich, neben den von Sennett ausgeführten Grundregeln der Kommunkation, einen weiteren entscheidenden Faktor. Dieser Faktor manifestiert sich auf der Seite der Individuuen in Form von devianten Verhalten und auf der Seite der Mehrheitsgesellschaft in der Ablehung des Individuums und seiner Innovation (vgl. Merton 1957, S. 153 – 157). Gleichwohl haben individuellen Neuentdeckungen für den Akteur und auch für Organisationen einen erkennbaren Nutzen – erleichtern sie es doch, dass sich Beschäftigte in die Organisation einbringen können, sich ernstgenommen fühlen und sich mit ihrer Organisation (Behörde, Firma, Protestbewegungen, Startup etc.) identifizieren können (vgl. ders., S. 202f.). Die alltägliche Kooperation der Massen der Beschäftigten spielt sich ab, – oder besser: sollte sich abspielen – in den Bereichen Win-Win-Situation und fairem [Adamik] Nullsummenspiel abspielen. Angereichert durch Phasen der differenzierten, ergebnisoffenen Kooperation ist so durchaus, im Rahmen von Sennetts analytischem Spektrum, ein gutes Leben möglich. Sennett selbst betrachtet die drei Austauschformen Win-Win-Situationen, differenzierter Austausch und faires [Adamik] Nullsummenspiel als den Teil des Spektrums der Austauschbeziehungen, in dem sich das fragile Gleichgewicht zwischen Konkurrenz und Kooperation einpendeln kann. Ein Gleichgewicht, welches, nach Sennett durch den modernen Kapitalismus eindeutig Schlagseite in Richtung Konkurrenz erhalten hat (ders., S. 178). Diese Beschädigung des Gleichgewichts untersucht er mit Hilfe des Instrumentariums des sozialen Dreiecks, welches er im Kapitel V des Buches (Kapitel V, Das soziale Dreieck, Die Erosion der sozialen Beziehungen in der Arbeitswelt, S. 201 – 240) einführt. Mit Hilfe des sozialen Dreiecks erläutert Sennett die informellen Beziehungen an industriellen Arbeitsplätzen, die für ihn ein menschenwürdiges Arbeiten ermöglichen. Die drei Seiten des Dreiecks bestehen aus 1) verdienter Autorität 2) wechselseitigem Respekt und 3) Kooperation während einer Krise (ders., S. 201f.). Am Beispiel der Finanzkrise zeigt Sennett, wie das soziale Dreieck aus dem Gleichgewicht geraten ist (ders., S. 221 – 240); folglich entwickelt er im letzten Teil des Buches ein Instrumentarium zur Verbesserung der Situation (Kapitel VII, Die Werkstatt, Herstellen und Reparieren, S. 267 – 295). Dieses Instrumentarium entlehnt er mit den Begriffen des Herstellens und Reparierens dem Vokabular der Werkstatt. Innerhalb des Kapitels versucht Sennett, den Transfer von diesen handwerklichen Tätigkeiten auf die geschwächte Kooperation in der heutigen Arbeitswelt (ebd.).
Sennetts Werk ist, wie bereits eingangs erwähnt, sehr stark an seinem dialogischen Prinzip orientiert. Innerhalb des Werkes versucht er auch nicht, den Leser von seiner Meinung zu überzeugen, sondern bietet eine Reflexionsgrundlage, um die eigene Position und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mit seinen Ansichten in einen Dialog zu bringen. Dabei stellt er mit dem Spektrum der Austauschbeziehung und dem sozialen Dreieck ein brauchbares analytisches Instrumentarium zur Verfügung, welches sowohl Selbst- als auch Welterkenntnis ermöglicht, ohne die eigene Positionierung des Lesers manipulativ zu beeinflussen. Seine kritische Haltung zu den Entwicklungen des modernen Kapitalismus werden dabei von einem empathischen Verständnis für die Beschäftigten in dem Bereich des mittleren Managements kontrastiert (ders., S. 221 – 225), wobei er mit dem Verhalten der höchsten Führungskräfte im Bereich der Hochfinanz sehr stark ins Gericht zieht (ders., S. 233 – 240). Insgesamt bietet Sennetts aktuelles Buch einen unterhaltsamen, leicht verständlichen und kritischen Überblick über das weite Spektrum der Kooperation. Wohl dem essayistischen Stil des Buches geschuldet ist dabei die Bevorzugung von historischen, literarischen und malerischen Beispielen, die aktuelle Bezüge zum größten Teil verdrängen. Auch versäumt es Sennett, seine Aussagen durch quantitatives Material zu stützen, weshalb z. T. eine größere Skepsis in Bezug zu seinen Aussagen geboten ist. So sehe ich sein sein Heilmittel, das dialogische Gespräch, nicht in dem Maße verallgemeinerbar, wie er es sich wünscht (s. o.). Die große Stärke des Buches liegt aber in dem eigenständigen theoretischen Ansatz, der eine kritische Perspektive auf die gängige Lehrmeinung im Bereich der Kooperationsforschung ermöglicht. Über den praktischen Nutzen des Buches sollte sich aber jeder Leser sein eigenes Bild machen.
© Philipp Adamik 2012
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Literatur:
Ebersbach, Anja; Glaser, Markus; Heigl, Richard (2011, 2011): Social Web. 2. Aufl. Konstanz: UVK Verl.-Ges.
Nielsen, Jakob; Loranger, Hoa (2006): Web Usability. München [u.a.]: Addison-Wesley.
Merton, Robert, K. (1957):Social Theory and social Structure. Glencoe.
Sennett, Richard (2012): Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält. Berlin: C. Hanser
Wehner (2008): CSCW – Institut für Psychologie. Online verfügbar unter http://www.psychologie.unifreiburg.de/Members/rummel/wisspsychwiki/wissenspsychologie/ CSCW#kooperation, zuletzt geprüft am 11.05.2012.
Wikipedia (Hg.) (2012): Richard Sennett. Online verfügbar unter http://de.wikipedia.org/wiki/Richard_Sennett, zuletzt aktualisiert am 18.10.2012, zuletzt geprüft am 11.09.2012.
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