Der Kern jedes Protests ist die Kritik. Nach Foucault liegt das Wesen der Kritik darin, dass sie „nur im Verhältnis zu etwas anderem als sie selbst“ (8) existiert. Dieses Wesen der Kritik wird in der Aussage der Aktivistin und Mitorganisatorin der Euromayday-Parade Regine Beyß deutlich:
„Unser Ziel war es, auf die prekären Lebens- und Arbeitsverhältnisse hinzuweisen, die der Kapitalismus in Deutschland und Europa schafft. […] Wichtig war uns, nicht nur zu kritisieren, sondern auch zu zeigen, welche Alternativen es gibt, die auch schon umgesetzt werden.“
Der Euromayday war eine Form der Kritik an den prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen in Deutschland und Europa, die durch den Kapitalismus geschaffenen wurden. Gleichzeitig reicht er aber über Foucaults Verständnis von Kritik hinaus. Nach Foucault ist Kritik ein „Instrument, Mittel zu einer Zukunft oder zu einer Wahrheit, die sie weder kennen noch seinen wird, sie ist ein Blick auf einen Bereich, in dem sie als Polizei auftreten will, nicht aber ihr Gesetz durchsetzen kann“ (9f).
Der Euromayday Protest kennt aber seine Zukunft, auf die er hinarbeitet. Er sieht sie u. a. in einer gerechten Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, in einer gelebten weltweiten Solidarität und, recht konkret, in einem bedingungslosen Grundeinkommen. Foucaults Vorstellung von Kritik paarte sich im Protest mit einem politischen Gestaltungswillen, der in der Darstellung konkreter Alternativen, wie dem Nordpol in der Dortmunder Nordstadt, mündete. Dennoch, und da ist der Protest wieder auf dem Niveau der Kritik bei Foucault angekommen, unterscheidet sich die Parade in vielen Punkten von der geforderten Umwelt. So kam es auch während der Demonstration nicht zu einer Umverteilung des dort vorhanden gesellschaftlichen Reichtums. Aber in einem Punkt konnte der Protest eines seiner Ziele, zumindest für seine Dauer, auf dem begrenzten Platz des Dortmunder Nordmarkts tatsächlich realisieren. Die Protestveranstaltung fand sehr viel Anklang bei der, zu einem hohen Anteil migrantisch geprägten, Wohnbevölkerung der Dortmunder Nordstadt. Hierdurch unterschied sich das Bild der DemonstrantInnen deutlich von dem des etwas älteren, weißen und gut gebildeten männlichen Bürgers, der ansonsten die Protestlandschaft in Deutschland prägt (vgl. Walter 2013, S. 301ff).
In dem auf dem Dortmunder Nordmarkt Deutsche und Migranten miteinander tanzten und feierten, sich aber auch informierten und demonstrierten, gelang es während der Parade der Forderung nach einer weltweit gelebten Solidarität tatsächlich einen kleinen Raum zu geben. Neben der geschickten Wahl des Ortes der Abschlusskundgebung ist dabei wohl auch der Einsatz von Musik, als eine Ausprägung von Popkultur für den Erfolg der Veranstaltung verantwortlich. Dazu die Aktivistin Regine Beyß:
„Zum einen war Popkultur ein Element, das die Menschen motivieren sollte, zur Demo zu kommen. Es sollte Spaß machen, sich zu beteiligen, weil es die Möglichkeit zum Tanzen und Feiern gab. Zum anderen ging es darum, neben den recht negativen Themen ein positives Gefühl von Gemeinschaft und Freude zu entwickeln. Statt nur zu klagen und anzuprangern, sollte die Wut über die herrschenden Verhältnisse weggetanzt und in positive Energie verwandelt werden.“
Popkultur, in ihrer Ausprägung als Musik, scheint hier aber selbst nicht politisch zu sein. Sie dient, wie zum Beispiel bei dem Deutschlandfest der SPD, als unpolitischer Motivator zur Teilnahme an einer politischen Veranstaltung. Allerdings wird man mit dieser Sichtweise dem Charakter, den Popkultur im Rahmen des Euromaydays gespielt hat, nicht ganz gerecht. In Regine Beyß Aussage „zum anderen ging es darum, neben den recht negativen Themen ein positives Gefühl von Gemeinschaft und Freude zu entwickeln“ steckt wesentlich mehr kritisches Potential als es eine Interpretation von populärer Musik als Motivation für eine Auseinandersetzung und willkommen Ablenkung von den schwierigen und ernsten politischen Themen vermuten lässt. Setzt man die popkulturelle Praxis des Tanzen und Feierns zur Musik in Relation zum Hauptthema des Protests, den prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen, dann drückt sich in dieser Praxis auch Protest gegen und die kurzzeitige gemeinsame Flucht aus der prekären Lebens- und Arbeitswelt aus.
Popkultur, so zeigt es die Veranstaltung, kann demnach für Proteste mehr sein, als nur ein unpolitischer Motivator. Sie kann sowohl Protest gegen prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse sein, als auch Gruppen miteinander verbinden, die, trotz gemeinsamer Interessen, in aller Regel getrennt demonstrieren. In diesem Sinne kann sie einen kleinen Beitrag zu einer besseren und solidarischeren Welt leisten.
Philipp Adamik 2014
Dieses Essay ist ein Teil des am 2.12.2014 an der Ruhr-Universität Bochum gehaltenen Vortrags Kampfzone Popkultur. Die Aktivistin Regine Beyß veröffentlicht unter anderem in der Community der Wochenzeitung der Freitag.
Literatur: