Noch eine Depesche aus der Postmoderne

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Noch eine Depesche aus der Postmoderne

Episode V: Die Rückkehr der Erben Ches

An diesem Freitag Nachmittag trug Paul seine Hausmannstracht, einen Jogginganzug aus lilaner und gelber Ballonseide. Er räumte gerade die Spülmaschine aus. Diese hatte zwar bereits vor mehreren Monaten den Geist aufgegeben, aber Paul sammelte immer noch fleißig das dreckige Geschirr in ihr. Abgesehen davon, dass sich das Ein- und Ausräumen der Spülmaschine in den Jahren des täglichen Gebrauchs zur Gewohnheit entwickelt hatte, fand er es praktisch, wenn das dreckige Geschirr in der Spülmaschine die Illusion der Sauberkeit seiner Küche aufrechterhielt. Aber vor allem mochte auch er, dass er sich durch das Ein- und Ausräumen der Spülmaschine dem bürgerlichen Milieu etwas näher fühlen konnte. Denn auch wenn er, seitdem sein Vertrag als Marktforscher in einer kleinen Werbeagentur nach vier Jahren nicht verlängerte wurde, vom Arbeitslosengeld lebte, so wollte er sich doch zumindest diese kleine Stück der bürgerlichen Kultur bewahren. Weil ihm das Aufräumen unterforderte, beschloss er nebenbei den Fernseher laufen zu lassen.

Während Paul also den Fernseher einschaltete, war Selim so sehr in seinen Gedanken ob 23 nicht auch mal die Antwort auf alle Fragen seien könnte vertieft, dass er den Funkspruch des Piloten überhörte. Er konnte folglich auch nicht den Mechanismus wieder in Gang setzen, der die Landebahn wieder auf die inoffiziell zugelassene Seite drehen sollte. Das Flugzeug zerschellte also am Boden und riss ein großes Loch in die Landebahn.

Paul zappte durch das Programm und landete schließlich bei einer Nachrichtensendung. Dort stand Marcusé Lanzé, der nach seinem Rauswurf bei den Privaten seine Reststrafe in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten absaß, vor einem blauen Hintergrund und sprach in ein Headset.

„Wie ich gerade aus Berlin höre, sind unsere Kameras dort inzwischen aufgebaut. Wir könne jetzt also live nach Berlin schalten. Hier Berlin, Berlin bitte kommen!“

„Berlin hört!“, sagte die Berichterstatterin mit den braunen Haaren.

Dr. Seltsams Evil Plan (TM)
Dr. Seltsams Evil Plan (TM)

„Wie schaut es dort vor Ort aus? Können Sie uns die Lage kurz schildern?“

„Nun Berlin, hier in Berlin hält Kenny gerade eine bewegende Rede. Aber hören sie ihn doch selbst.“

Hinter Marcusé Lanzé erschien ein wild gestikulierender Kenny.

„Und hinter all dem stecken die zionistischen Rassisten. Diese Juden kontrollieren FEED und damit auch die US-Regierung und das amerikanische Militär. Sie waren es, die sämtliche Kriege der letzten einhundert Jahre angezettelt haben.“

Paul war verwirrt. Wie passten die ganzen Juden, die er so mochte, in dieses neue Weltbild. Wie passte Jonathan Safran Foer da rein und was war mit Woddy Allen? Steckten sie alle unter einer Decke und was war überhaupt aus den guten alten Freimaurern geworden? Hatten sie in den letzten einhundert Jahren nichts getan um die Weltherrschaft an sich zu reißen?

Da Paul einen langfristigen Abovertrag über 42 Jahre abgeschlossen hatte, hatte er, obwohl die Kosten seinen Bildungsetat von 1,49 € pro Monat bei weitem überstiegen, die Zeitschrift 23 – Das Fachmagazin für den Verschwörungstheoretiker von Welt immer noch im Abonnement. Paul ging also zu seinem defekten Herd, den er als Zeitschriftenständer nutzte, und griff nach der neusten Ausgabe. Seine Verwirrung löste sich schlagartig auf, als er einen Blick auf das Freimaurer All-Star Team warf. Welche Chancen hätten denn die zionistischen Rassisten in den letzten einhundert Jahren gehabt die Weltherrschaft an sich zu reißen, wenn auf der Seite der Freimaurer Mark Twain und Harry Houdini gestanden haben? Wohl nur eine verschwindend geringe. Ganz zu schweigen von den anderen Weltverschwörern, den Rosenkreuzern, den Illuminati und Opus Dei. Weltverschwörung war schon immer ein hartes Geschäft, in dem keine Gefangenen gemacht wurden. Da war es einfach unwahrscheinlich, dass sich eine Gruppe so durchsetzen konnte, dass sie alle Kriege anzetteln konnte. Irgendetwas ging dort also vor sich. Misstrauisch folgte er weiter dem Bericht.

Im Fernseher beendete Kenny gerade seine Rede: „Und in unserer modernen Welt, in der unser rechter Daumen immer links ist, macht das Abbiegen einfach keinen Sinn mehr. Und deshalb solltet ihr nur noch geradeaus gehen.“

Die Kamera schwenkte über die mit Aluhüten bewehrte und vor Zustimmung johlenden Menschenmasse.

„Dreht euch um, und geht von nun an nur noch geradeaus!“, erklang Kennys Stimme aus dem Off.

Während die Menschenmasse tat wie ihr geheißen, schwenkte die Kamera über das Areal. Für einen kurzen Augenblick waren im Hintergrund mehrere gelber Bagger zu sehen, die eilig aus dem Bildausschnitt fuhren. Dann schaltete die Kamera wieder auf die Moderatorin.

„Die Massen sind begeistert. Sie folgen Kennys Anweisungen, als kämen sie von der Bundeskanzlerin persönlich. Dieser Anblick muss für Kenny ein innerer Reichsparteitag sein.“

Paul war sich zwar noch immer nicht ganz im Klaren darüber, was dort vorging, aber er wusste, dass es nichts Gutes war und obwohl er sich seit dem Krieg der Strukturen aus dem aktiven Dienst zurückgezogen hatte, erkannte er, dass nur er etwas unternehmen konnte. Er ging also zum Schreibtisch und öffnete die Schublade. Er erblickte sein schwarzes Notizbuch und seinen Stift genauso, wie er sie damals nach der Schlacht in Castrop Rauxel zurückgelassen hatte. Seine Hände schlossen sich um beides und der Jogginganzug veränderte sich umgehendes. Die lila-gelbe Ballonseide wurde zu einer Kombination aus einem beigen Kordjackett und einer blauen Jeans. Eine Hornbrille erschien auf seiner Nase. Er ging noch eben rüber zum Bücherregal und ergriff die Bibliothek von Babel. Dann verließ er die Wohnung in Richtung Kundgebung.

Ches Erben
Ches Erben

Währenddessen saß jener rebelliöse Club genannt Ches Erben, der immer dann zur Stelle war, wenn mit Sprache Schindluder getrieben wurde, in der S-Bahn. Sie fuhren ebenfalls zur Kundgebung und frönten nebenbei ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Streiten.

Der einsilbige Hank protestierte: „Arrghhhh!“

Pflichtbewusst warf der britische Austauschrebell Simon einen Blick in die Arghologie Hanks und übersetzte: „Arrghhhh, expression of a resolute rejection. In this context it means something like, if the masses want to become sausages, let them.“

Michael, der heimliche Anführer jenes rebelliösen Clubs, konnte diesen Ungehorsam natürlich nicht dulden und antwortete: „Ich habe euch schon tausendmal gesagt, dass wir ein basisdemokratischer Club sind und auch wenn mich eure Meinung nicht im geringsten interessiert, so habt ihr alle das Recht es genau so zu machen, wie ich es will. Und damit basta!“

Holger, das Nesthäkchen und Faktotum des Clubs, beteiligte sich wie immer nicht an den Diskussionen und versuchte seine aufsteigende Nervosität durch Gedanken an seine elektrische Eisenbahn etwas zu lindern.

„Wie auch immer“, sagte Michael, „wir sind jetzt da.“

Jener rebelliöse Club stieg also aus der S-Bahn und erreichte fünf Minuten später den Platz der Kundgebung. Dort angekommen erblickten sie die Menschenmasse, die geradewegs auf die Fallgrube und damit ihren Schicksal als Wurst zusteuerte.

„Was sollen wir nur tun?“ rief Holger verzweifelt.

Men left
Men left

„Keine Panik Jungs, dafür habe ich dieses Schild vorbereitet.“, sagte Michael und hielt ein Schild mit der Aufschrift „Men <=left, ´cause women are allways right=>“ in die Höhe.

„Hank, setz´ deinen Wassermelonenschalenhelm auf und ramm es in den Boden.“

Hank war immer noch nicht davon überzeugt, dass die Menschenmasse es wert sei gerettet zu werden, aber da sie basisdemokratisch beschlossen hatten immer das zu tun, was Michael sagte, gehorchte er. Er setzte also seinen Wassermelonenschalenhelm auf. Sofort schwoll Hanks ganzer Körper an. Sein weißer Leinenanzug riss. Sein nun adipöser Körper wurde nur noch von seinem Helm, einem BH und einem Suspensorium aus Wassermelonenschalen bedeckt. Dann nahm er das Schild und rammte es mit einer Hand in den Asphalt.

Der unglaubliche Hank
Der unglaubliche Hank

Währenddessen war auch Paul an dem Platz angekommen und sah wie die Masse, von dem Schild unbeeindruckt, weiter geradeaus marschierte. Ihm war sofort klar, dass man eine Rede nicht mit einem Schild kontern konnte. Er eilte los.

Die Masse hatte sich inzwischen in einen Mob verwandelt und jenen rebelliösen Club genannt Ches Erben in Richtung Abgrund gedrängt. Holger war verzweifelt. „Was sollen wir nun tun?“

Michael setze gerade zu einer seiner wiederholungsreichen und pathetischen Reden an, da unterbrach ihn Simon.

„Who is this?“, fragte er und zeigte auf den heran eilenden Paul.

Michael drehte sich zu Simon um. „Wer hat dir erlaubt mich einfach zu unterbre…“, dann stockte er. „Das kann doch nicht wahr sein. Das ist Paul! Paul Himmelstürmer! Die Legende besagt, dass er noch von Che selbst ausgebildet wurde. Hm, ich dachte, der sei inzwischen in Rente, aber für sein Alter ist er noch ganz schön flink, aber es wird nicht reichen. Los, wir müssen ihn ein wenig mehr Zeit verschaffen. Hank, stämm dich gegen den Mob und ihr anderen unterstützt Hank! Ich mach mir inzwischen Gedanken darüber, warum mein Schild nicht funktioniert hat.“

Gesagt getan und Dank der unglaublichen Superkräfte des unglaublichen Hanks gelang es den Erben Ches den Mob tatsächlich ein wenig aufzuhalten. Aber es waren einfach zu viele. Mit jeder Sekunde drängte der Mob den Club immer näher und näher an den Abgrund heran. Als Holgers Rücken nur noch wenige Meter vom Abgrund entfernt war, hatte Paul endlich diese Szene erreicht. Mit gezückten Stift sprang er in die Luft und rief noch im Flug: „Flieht ihr Narren!“

Ohne Wiederworte verschwanden Ches Erben aus der Gefahrenzone. Selbst Michael beließ es bei einem obligatorischen, „aber nur unter Protest“.

Als Paul direkt auf dem Grat des Abgrundes landete, war der tödliche Mob nur noch drei Meter von ihm entfernt. Er hatte nur diese eine Chance.

„Hört mich an!“ rief er, „Hört mich an! Der linke Daumen kann auch links sein!“

Zum Beweis hielt er seine linke Hand mit dem Rücken zum Publikum. Dann drehte er seine Hand um 180 Grad. Seine Handfläche zeigte jetzt zum Publikum. Das Publikum verharrte und starrten zunächst auf Pauls, dann auf ihre eigenen linken Hände. Ihre linken Daumen waren immer noch rechts. Aber dann taten es einige Paul gleich, drehten ihre Hand um 180 Grad und erkannten, dass der linken Daumen auch links sein konnte. Daraufhin setzten sich einige von ihnen auf den Boden und begannen zu diskutieren. Andere Bogen nach links und wieder andere nach rechts ab. Ein Teil aber konnten Pauls Worte nicht erreichen. Sie marschierten weiter geradeaus und rissen Paul mit sich. Während er über den Grat stürzte, sah er noch wie eine junge Frau auf ihn zu rannte.

Der große Rotor
Der große Rotor

Während Paul dem großen Rotor am Grund der Fallgrube entgegen rutschte, schreit Facebook durch ein beständiges Bluppen nach eurer Aufmerksamkeit. Weil ihr die politischen Begriffe rechts und links verwendet, werdet ihr dort von einem Anti-Etikettierer als Etikettierer etikettiert. Hilflos schaut ihr dabei zu, wie sich ehemals Linke dem rechten Spektrum zuwenden und etwas traurig erinnert ihr euch an das Foto, dass euch euer selbsternannter Neuland-Guide geschickt hat. Der adipöse Held auf dem Foto erinnert euch mit seinem BH aus Wassermelonenschalen und seinem magischen Helm aus dem selben edlen Material ein wenig an den unglaublichen Hank. In euren Geist hört ihr seine Worte: „Welcome to Neuland, I´m your guide!“

to be continued!

Creative Commons Lizenzvertrag Bild und Text: Philipp Adamik 2014; Außer Titelbild und Men left unbekannte Quelle. 

Zum ersten Teil.

<= Die Geschichte erschien zunächst hier in der Community des Freitags =>

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