Takism ist nicht überall

Der globalisierte Platz und die deutsche Integration. Der Ruf nach mehr Demokratie ist weltweit zu hören, aber er verbleibt im nationalen Interesse der Plätze hängen.


Für den kanadischen Medienwissenschaftler Marshall McLuhan war die „elektronisch gebündelte“ Welt im Jahre 1964 nichts weiter als ein Dorf. Das Zusammenbringen aller sozialen und politischen Funktionen durch die „elektrische Geschwindigkeit“ ließ für ihn die Welt implodieren. Heute, so lassen zumindest die deutschen Reaktionen auf die Proteste in Istanbul vermuten, haben wir es mit einem anderen räumlichen Logik zu tun. Während die soziale Struktur des Dorfes sich durch viele enge Beziehungen auszeichnet, ist sie bei den gegenwärtigen Protesten durch global vernetzte, aber lokal isolierte Ethnien gekennzeichnet.
Die räumliche Logik der Proteste ist nicht diejenige des globalen Dorfes, sondern die des globalisierten Platzes.
Diese Logik lässt uns eher an das Bestehen von Parallelgesellschaften als an eine gelungene Integration anderer Ethnien in die deutsche Gesellschaft denken. Integration ist dabei entgegen der weitverbreiteten Meinung nicht Assimilation, die einseitige Anpassung der Einwanderer an die Normen, Werte und die Kultur der Mehrheitsgesellschaft, sondern die gegenseitige Anpassung beider Gruppen. In diesem Sinne sind nicht nur die ethnische Zusammensetzung der Protestierenden, die Übereinstimmung ihrer Protestkultur mit der politischen Kultur Deutschlands und die Ansprache unterschiedlicher Ethnien durch die Organisatoren von Interesse. Auf der anderen Seite müssen auch die Solidarität der Deutschen mit den Protestierenden und die Einschätzung offizieller Sprecher zu den Protesten beachtet und als Indikatoren für die gegenseitige Integrationsbereitschaft herangezogen werden.

Aufgrund ihrer Größe und ihres als liberal geltenden Veranstaltungsortes Köln, eignet sich die Solidaritätskundgebung für die Protestierenden in der Türkei am 22. Juni auf dem dortigen Heumarkt besonders gut um die Integrationsbereitschaft beider Seiten anhand der gegenwärtigen Proteste zu betrachten. In wenigen Städten Deutschlands kann man wohl mit mehr Solidarität von der deutschen Mehrheitsgesellschaft rechnen. Erwartungsgemäß wurde die Demonstration auch vorwiegend von Menschen mit türkischen Wurzeln besucht. Auffallend war aber die insbesondere für Kölner Verhältnisse verschwindend geringe Beteiligung deutscher Demonstranten  hatte. Von der Kölner Polizei wird diese ethnische Zusammensetzung wohl mit einem erhöhten Gefahrenpotential in Verbindung gebracht, weshalb ein Sprecher der Kölner Polizei von „einen erfreulich friedlichen Verlauf der Kundgebung“ sprach.

Betrachtet man Demonstrationen im Sinne Ralf Dahrendorfs als politische Institution, die gewaltlose Veränderungen ermöglichen, gehört der friedliche Ablauf von Demonstrationen zur politischen Kultur Deutschlands. Als ein weiteres Kriterium kann die Wahl der Ziele herangezogen werden. In säkularisierten Staaten wie Deutschland sollen Demonstrationen vorwiegend weltliche Ziele artikulieren. Beides ist in dem Fall der Kölner Demonstration gegeben. Diese wurde zwar von dem islamischen Verein der alevitischen Gemeinde Deutschlands organisiert, aber die Forderungen die Organisatoren und der Demonstranten waren rein weltlicher Natur. Sie bezogen sich auf den Erhalt des Parks, den Rücktritt Erdogans oder auf die Freilassung von inhaftierten Protestierenden.

Forderungen Demonstranten

Die Türken, so scheint es sind in der politischen Kultur der Bundesrepublik angekommen. Ihre Forderungen werden dennoch nicht von der deutschen Mehrheitsgesellschaft unterstützt. Dabei versuchten die Organisatoren durchaus ein deutsches Publikum anzusprechen. Neben zahlreichen türkischen Rednern wie Memet Cilic sprachen auch mehrere prominente Deutsche wie Gregor Gysi (Die Linke), Rolf Mützenich (SPD) und Volker Beck (Die Grünen) auf der Demonstration in Köln.

Die geringe Beteiligung von Deutschen an der Demonstration ist aber nicht nur aus diesem Grund bemerkenswert. Neben der tagtäglichen Präsenz türkischstämmiger Menschen in unserem Alltag ist Deutschland auf vielfältige Weise mit der Türkei verbunden. So ist sie als eines der beliebtesten Reiseziele der Deutschen, als wichtiger Importeur für Textilien und als mögliches EU-Mitglied ein Teil unseres sozialen, wirtschaftlichen und politischen Raums.

Neben diesen allgemeinen Verbindungen  bestehen aber auch direkte ideelle Verbindung zu den Protestierenden auf dem Takism-Platz. Die Forderungen der Demonstranten dort nach dem Schutz vor staatlichen Repressionen bei der Ausübung ihrer Grundrechte und nach der Ausübung der Presse- und Meinungsfreiheit sind allgemeine Forderungen nach mehr Demokratie und damit elementare Teile unseres als selbstverständlich erachteten politischen Wertekanons.

Im Vergleich mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft zeugt die Demonstration in Köln von redlichen Integrationsbemühungen der türkischen Organisatoren und Demonstranten. Allerdings kann ein demokratischer Wille, der hauptsächlich auf der Basis einer gemeinsamen ethnischen Herkunft beruht, auch nur ein erster Schritt in Richtung einer höheren demokratischen Beteiligung sein. Im hier gemeinten Sinn von Integration müssen Themen gefunden werden, die Interessen jenseits von ethnischen und sprachlichen Schranken artikulieren. Den Protesten gegen die Hartz-IV Gesetzgebung und die Anti-Atomkraft-Demonstranten liegen solche gemeinsamen Interesse zu Grunde. Aber auch hier können sich die deutschen Organisatoren ein Beispiel an den türkischen nehmen und mehr türkischsprachige Gastredner einladen. Auch wenn hierdurch nicht alle sprachliche Minderheiten berücksichtigt werden können, ist dies kein Grund nicht zumindest diejenigen zu berücksichtigen, die berücksichtigt werden können.

Die Metapher des globalen Dorfes scheint also zumindest in Deutschland nicht zu stimmen. Es ist vielmehr der globale Platz, an dem sich weit entfernte Ereignisse auf der Basis kultureller Bindungen kurz artikulieren um dann im Nebeneinader der Alltagswelt wieder zu verschwinden.

Wenn also von der deutschen Mehrheitsgesellschaft Parallelgesellschaften beklagt werden, aber diese auch durch ihre Ignoranz von Integrationsbemühungen und gemeinsamen Interessen mit erzeugt werden, sind die Solidaritätskundgebungen auch ein Anlass weit jenseits eines Rechts-Populismus a la Sarrazin oder Buschkowsky über Integration nachzudenken und zu handeln. Die aktuelle Ausgabe des Spiegels, der zum ersten Mal in seiner Geschichte mit einem deutsch/türkischen Titelblatt und zehn Seiten auf Türkisch erschienen ist, ist dabei ein erster Schritt in diese Richtung, der die Interessen und die Kultur der Anderen anerkennt, ohne ihnen eine alltagsuntaugliche deutsche Sprache und damit auch Leitkultur aufzuzwingen. Durch diese Anerkennung, der Solidarität der prominenten Gastredner und der Unterstützung durch Parteien und Verbände wie den Jusos Dortmund ist der globalisierte Takism-Platz bereits ein kleiner nationaler Schauplatz der Integration. Damit aber aus den globalisierten Plätzen ein globales Dorf entstehen kann, fehlt noch die Solidarität und die Integration in den Straßen und auf den Plätzen.

© Philipp Adamik

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Der Artikel erschien ursprünglich in der Community von “Der Freitag“.

One Reply to “Takism ist nicht überall”

  1. nun ja, ob man nach dieser “Demokratie” rufen sollte, die die “Elite” uns zugesteht, sollte jeder für sich selber hinterfragen. Denn Demokratie heisst doch:

    Volksherrschaft

    aus
    griech.
    demos „Volk“ und
    griech.
    kratein „herrschen“, zu
    griech.
    kratos „Kraft, Macht, Gewalt“

    Aber wo, in welchem Staat der Erde, der sich mit dem Namen der Demokratie schmückt, existiert nicht in wirklichkeit eine Elitokratie? Uns wird per angeblich freier Wahl suggeriert, wir Steuerzahler hätten hier irgendwas zu melden. Wo gibt es denn eine Volksherrschaft? Ich kenne keine, auch die Schweiz ist Knecht von Pharma- und sonstigen Konzernen wie Bankhäusern. Und vor allem, wer will denn unbedingt die “Demokratie” auch mit Waffengewalt auf der ganzen Welt verbreiten? Die so demokratischen USA, wo ja das Volk so viel zu melden hat. Also, auf diese uns von der Globalisten-Elite zugestandene, vorgespielte Volksherrschaft, “Demokratie” genannt, könnte man auch gut verzichten…

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