Hier geht es zum ersten und zum zweiten Teil.
Was am Ende bleibt
Am Ende dieser Metakritik möchte ich noch auf den Kritikpunkt der Repräsentation der Masse durch die sozialen Protestbewegungen eingehen, bevor ich die zentrale Erkenntnis dieser Auseinandersetzung zusammenfasse und eine abschließende Empfehlung an die Protestbewegungen formuliere.
Treffender als in dem Slogan „We are the 99 percent“ lässt sich der Repräsentationsanspruch der sozialen Protestbewegungen kaum auf dem Punkt bringen. Dieser Repräsentation mangelt es selbstverständlich an einer repräsentativen demokratischen Legitimierung. Diese hätte über die Eingabe von konkreten Forderungen in die direktdemokratischen Elemente der USA erfolgen können. Ob es im Falle von Occupy Wallstreet richtig war auf die Aufstellung von konkreten Forderungen zu verzichten, weil es die Anerkennung der Legitimität derjenigen bedeutet, die diese Forderungen erzeugen, wie David Graeber (Graeber 2012) argumentiert, kann an dieser Stelle nicht eingehend diskutiert werden. Aber ein Verzicht auf Teilerfolge zu Gunsten des Kampfes um das große Ziel der Bewegung, den Kapitalismus und das dazugehörige politische System zu überwinden, erscheint mir zu weit- und gleichzeitig zu kurzsichtig gedacht und liegt nicht im Sinne von Hardt und Negri: „Der Verfassungsprozess muss daher von Gegenkräften begleitet werden, die sofort Maßnahmen gegen soziale Missstände und Umweltgefahren ergreifen.“ Hardt und Negris gemäßigte Position, die in ihren Grundzügen zum Teil mit bestehenden Verfassungen kompatibel ist, erscheint mir als der vernünftigere Weg.
Für die Rezeption von Deklaration/Demokratie im deutschsprachigen Raum erscheint mir die herausgearbeitete Klärung der Textsorte und der Zielgruppe für entscheidend.
Die Ausrichtung des Textes an ein globales Publikum erfordert eine andere Lesart des Buches, als es den Lesegewohnheiten der akademisch gebildeten Kritiker und zum Teil auch des Publikums entspricht. Unisono sind die Kritiker von der Oberflächlichkeit des Textes enttäuscht, auch wenn die Kritikerin Verständnis für diese Oberflächlichkeit aufbringt. Konsequenz dieser enttäuschten Erwartungen sind schlechte Kritiken, die aber am Kern der Sache vorbeigehen und Aufgrund ihres falschen Verständnisses der Inhalte ein verzerrtes Bild des Buches in der medialen Öffentlichkeit verbreiten. Einem adäquaten Textverständnis stehen ihnen dabei aber auch gelegentlich ihre eigenen Vorurteile im Weg. So Piorkowski:
„Das kommunikative Miteinander sollte ferner nicht das einzige Kriterium für beispielhaften Widerstand sein; andernfalls müsste man auch die Gegner der Homo-Ehe und andere Ewiggestrige der geschichtsmächtigen Multitude zurechnen“ (Piorkowski 2013).
Die Gegner der Homo-Ehe und andere Ewiggestrige gehören auch in der politischen Ideologie von Hardt und Negri nicht zur „geschichtsmächtigen Multitude“. Sie sind der Gruppe der Verwahrten zu zurechnen, die in einer allgemeinen gesellschaftlichen Angst in der Furcht vor dem gefährlichen Fremden und unbekannten Bedrohungen leben (Hardt und Negri 2013). Aber die Artikulation ihrer Ängste, die auf der Internalisierung eines patriachalischen Welt- und Männerbildes basieren, sind auch in der Organisationsform der Demokratiebewegung vorgesehen. In Ihnen geht es „vor allem [um die] Einbeziehung von Unterschieden. Horizontale, demokratische Versammlungen suchen keine Einstimmigkeit, sondern verwenden einen pluralen Prozess, der für Widersprüche und Konflikte offen ist. Die Entscheidungen der Mehrheit kommen unter Einbeziehung der Unterschiede zustande.“ (Hardt und Negri 2013). Allerdings bedeutet das auch nicht das jede Minderheitenposition in die Mehrheitsposition eingeht. „Im Gegenteil, die meisten Minderheiten sollten in den meisten Fällen überstimmt werden, denn andernfalls wäre der Mehrheitsentscheid sinnlos.“
An dieser Stelle wird auch der praktische Nutzen des von Hardt und Negri vorgeschlagenen Wertesystems deutlich. Die Ausgrenzung oder Unterdrückung von Homosexualität widerspricht dem Grundsatz der Freiheit und kann deshalb recht leicht argumentativ entkräftet und auf dieser Basis aus dem Mehrheitsentscheid wertrational ausgeschlossen werden. Bedingung hierfür wäre aber eine vorhergehende Diskussion und Abstimmung über das von Hardt und Negri vorgeschlagene Wertesystem in jeder Demokratiebewegung. Bei einer solchen Diskussion sind zwei Punkte kritisch zu beachten.
Hardt und Negri entwickeln ihr Wertesystem u. a. auf Basis der traditionellen westlichen Werte Wahrheit, Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und dem Streben nach Glück. Ob diese mit anderen kulturell verwurzelten Werten in Einklang gebracht werden können und nicht nur internationale Verbreitung sondern auch Anerkennung erhalten können, muss der historische Prozess zeigen. Um die tatsächlichen Verbreitung dieser Werte in den unterschiedlichen Protestbewegungen zu belegen, reichen, wie bereits angesprochen, die Beobachtungen der beiden Autoren nicht aus und dies wird an dieser Stelle auch angezweifelt.
Sollte das Wertesystem von Hardt und Negri in den Protestbewegungen zur Abstimmung kommen, stehen diese vor den Möglichkeiten das vorgeschlagene Wertesystem entweder unverändert zu akzeptieren, oder an ihre lokalen Gegebenheiten anzupassen.
Die Vorteile der unveränderten Akzeptanz wären eine erleichterte Kommunikation, eine Vereinheitlichung aller Protestbewegungen, eine beschleunigte Entscheidungsfindung und ein globales kollektives „Klassenbewusstsein“. Die Konsequenz hieraus wäre eine stärkere Durchsetzungskraft der Bewegungen unter dem gemeinsamen Dach der Multitude.
Aber eben in diesen Vorteilen liegen auch die Preise dieser Praxis. Differenzen werden angeglichen, Beiträge können aufgrund des Wertesystems oder der Homogenisierung der Kommunikation unterdrückt oder gar nicht erst zur Sprache gebracht werden, wie es Piorkowski in seiner Kritik implizit fordert. Ebenso fördern die westlichen kulturellen Grundlage des Wertesystems eine Dominanz des Typus des „weißen europäischen Mannes“ als Rollenmodel (hier nicht im Sinne der deutschen Übersetzung gebraucht, sondern in der Tradition der soziologischen Rollentheorie) der Mulitude (Hardt und Negri 2002). Diesen Rollentypus verkörpern Michael Hardt und Antonio Negri, ob sie es nun wollen oder auch nicht, eben auch selbst.
Diese Nachteile können zum größten Teil durch die Einbindung und Veränderung der Werte an lokale Kontexte verhindert werden, allerdings zu Kosten der eigenen Durchsetzungsfähigkeit.
Die Diskussion über die Anerkennung der Werte sollte aber nicht nur auf der Basis der Vor- und Nachteile des Wertesystems erfolgen, sondern muss auch auf der Basis der aktuellen Situation diskutiert werden.
Auch wenn aus einer Abwägung der Vor- und der Nachteile sich eine negative Entscheidung aufdrängen würde, kann dass, was bei einer Akzeptanz des Wertesystems folgt besser sein als die derzeitige Situation. Wurde dieses bessere Stadium erreicht, kann immer noch über ein neues Wertesystem, bzw. über eine neue globale Verfassung diskutiert werden. Bei Hardt und Negri heißt es dazu in der Tradition Jeffersons: „Jede Generation muss ihre eigene Verfassung aufstellen“ (Hardt und Negri 2013).
In diesem Sinne stellen Michael Hardt und Antonio Negris in Deklaration/Demokratie eine Orientierung bereit, die eine recht hohe Verständlichkeit aufweist, weshalb sie auch in den unterschiedlichen Bewegungen diskutiert werden kann. Das vorgeschlagene Wertesystem sollte dabei möglichst unverändert zur Abstimmung gebracht werden. Hierfür spricht, allerdings ebenfalls aus meiner Perspektive des „weißen europäischen Mannes“ heraus, ihre Universalität und Flexibilität. Während ihre Universalität es gestattet weltweite Anerkennung zu finden, ermöglicht ihre Flexibilität die Einbeziehung lokaler Unterschiede. Insgesamt scheint das Werk stärker einer globalen Orientierung als einer westlichen Dominanz zu dienen
Links:
Eine Leseprobe von Demokratie gibt es hier:
Literatur:
Berger, Peter L.; Luckmann, Thomas (1980): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch.
Dahrendorf, Ralf (1972): Homo sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle. 11. Aufl. Opladen: Westdt. Verl. (UTB, 28).
Graeber, David (2012): Occupy Wall Street’s anarchist roots. Al Jazeera IT. Online verfügbar unter http://www.aljazeera.com/indepth/opinion/2011/11/2011112872835904508.html, zuletzt aktualisiert am 02.04.2013, zuletzt geprüft am 02.04.2013.
Hardt, Michael; Negri, Antonio (2002): Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt [u.a.]: Campus-Verl.
Hardt, Michael; Negri, Antonio (2013): Demokratie! Wofür wir kämpfen. Frankfurt, M, New York, NY: Campus-Verl.
Martini, Tania (2013): „Demokratie!“ von Negri & Hardt: Gefangen im Manifest. Die Tageszeitung. Online verfügbar unter http://www.taz.de/!112677/#send-comment, zuletzt aktualisiert am 13.03.2013, zuletzt geprüft am 29.03.2013.
Marx, Karl (1989): Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie. versch. Aufl. Berlin: Dietz.
Marx, Karl; Engels, Friedrich (2005 (orig. 1848)): Manifest der Kommunistischen Partei. Paderborn: Voltmedia.
Misik, Robert (2013): „Demokratie“: Romantisches Theorie-Brimborium. Frakfurter Allgemeine Zeitung. Online verfügbar unter http://www.fr-online.de/literatur/-demokratie–romantisches-theorie-brimborium,1472266,21968466.html, zuletzt geprüft am 29.03.2013.
Piorkowski, Chrsitoph David (2013): In der Schwitzhütte des Diskussionszeltes. Süddeutsche Zeitung.
© Philipp Adamik 2013